Wer ist hier eigentlich dominant?
Wie oft hört man das oder ähnliches im Pferdetraining: "Du must dich durchsetzen, er/sie ist viel zu dominant, lass dir nichts gefallen, du bist der Chef!" Auch für mich waren solche Aussagen jahrelang unangezweifelte Wahrheiten, schließlich gab es rundherum genug Pferdeleute und Trainer die dies behauptet haben. Und ich ließ mir auch nichts gefallen, ich achtete darauf meinem Pferd gegenüber immer dominant aufzutreten, notfalls mit ordentlich Druck. Es war einfach normal so. Durch meine Ausbildung zur Pferdeverhaltensberaterin beschäftigte ich mich dann erstmals eingehend mit Pferdepsychologie und dem breit gefächerten Spektrum des Pferdeverhaltens. Und ich begann an vielem zu zweifeln das ich bisher über Pferde zu wissen glaubte. Es dauerte eine Weile bis ich mir eingestehen musste, dass ich sämtliche überholte Denkmuster in Bezug auf Pferde ablegen und nochmal sozusagen bei Null anfangen musste.
Wie ist das nun wirklich mit der Dominanz? Dominanz ist immer situationsbezogen - ein Individuum verschafft sich durch dominantes Verhalten Vorteile gegenüber einem anderen Individuum. In der Pferdewelt wäre das zum Beispiel, der erste beim Futtertrog zu sein, den besten schattigen Platz zu ergattern oder den angenehmsten Stehplatz im Unterstand, oder den alleinigen Anspruch auf paarungsbereite Stuten zu haben. Jetzt müssen wir als Menschen uns die Frage stellen: aus welchem Grund sollten wir dann unseren Pferden gegenüber dominant sein? Wir wollen weder ihr Futter, noch den Schattenplatz, noch die Sexualpartner beanspruchen. Pferde wissen außerdem, dass Menschen keine Pferde sind und würden daher nicht auf die Idee kommen, einem Menschen gegenüber ihre Dominanz zeigen zu wollen.
Somit ist jegliches "Dominanztraining" völlig absurd. Ein Pferd in einem Round Pen herumzuscheuchen um zu demonstrieren dass man in der Lage ist, das Pferd zu dirigieren, bewirkt nur, dass es eingeschüchtert und verunsichert wird und sich schlimmstenfalls vor uns fürchtet. Igendwann wird es sich aus Resignation uns anschließen, weil es in dem engen Raum keine andere Möglichkeit hat, als aufzugeben. Das, was als "Join Up" so sanft und natürlich dargestellt wird, ist demnach alles andere als pferdegerecht. Und ja, auch ich hatte früher öfter Pferde herumgescheucht weil ich dachte dass sich unsere Beziehung dadurch verbessern würde...
Auch wenn Pferde sich untereinander herumscheuchen und wir die Scheuchei gern als natürliches Pferdeverhalten sehen möchten, das wir kopieren können: Pferde, die andere Pferde scheinbar grundlos ständig herumscheuchen sind meist nicht dominant, sondern "Krawallmacher" - oft haben sie nichtmal einen wirklichen Platz in der Herde und stehen viel alleine rum, weil keiner sich mit so jemandem abgeben will. Außerdem sind die Pferde in unserer Obhut immer willkürlich in Gruppen zusammengewürfelt, die sie sich nicht aussuchen können. In der freien Natur würden die Pferde, die nicht in die Gruppe passen, sich eine andere Herde suchen.
Aber was ist mit Pferden, die Menschen anrempeln, sich nicht am Strick führen lassen, daran herumzerren und ständig vorauslaufen, den Menschen zwicken oder ihm auf die Zehen steigen usw.? So ein Pferd hat doch keinen Respekt vor mir, oder? Kann man so nicht sagen - denn woher soll ein Pferd von vornherein wissen, was der Mensch als respektvoll erachtet? "Rüpelpferde" haben schlicht und ergreifend nicht gelernt, dass so ein Verhalten Menschen gegenüber unangebracht ist. Dass der Mensch zerbrechlicher ist als der Pferdekumpel, dem es herzlich egal ist ob er gerempelt oder leicht gezwickt wird oder wer jetzt genau vorausläuft. Es ist einfach schlecht erzogen! Auch bei dieser Erkenntnis musste ich selber schon schwer schlucken - bedeutet es doch, dass ich mich über etliche Pferde schon geärgert und sie gar gemaßregelt habe, die es nicht besser wussten, weil sie nicht erzogen waren. Das gute Benehmen muss vom Pferd gelernt werden, aber auf gar keinen Fall durch Strafe! Warum nicht, untereinander hauen/beissen sich Pferde doch auch? Ja, aber wenn Pferde sich ernsthaft hauen oder beissen, ist die Situation meist eskaliert und es geht um eine Ressource, wie weiter oben beschrieben. Kleinere Kniffe usw. sind meist spielerisch oder ritualsiert, d.h. wenn ich als Mensch "zurückkneife" könnte es das Pferd falsch verstehen und das Spiel immer weiter spielen wollen. Besonders bei Wallachen und Hengsten ist hier Vorsicht geboten! Wenn ein Pferd gegenüber Menschen allerdings echtes aggressives Verhalten zeigt ist das ein deutliches Zeichen dafür dass es gravierend schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht hat und sich nicht mehr anders zu helfen weiß - ein echter Hilferuf dass dringend etwas geändert gehört!
Zusammengefasst müssen wir also erkennen: "Dominanztraining" ist aus Pferdesicht völlig absurd; es gibt keine Dominanz zwischen Pferden und Menschen. Respekt und gute Erziehung muss jedes Pferd lernen, am besten durch positive Erlebnisse. Mehr dazu unter der Rubrik "Pferdetraining".